Ebenso alt wie die Zivilisation scheint der Überdruss an der Zivilisation zu sein. Schon der antike Philosoph Diogenes zog es der Legende nach vor, in einer Tonne zu hausen, weil er der Meinung war, dass wahre geistige Freiheit mit materieller Bedürfnislosigkeit einhergeht.
Im Jahr 1845 zog sich H.D. Thoreau in eine selbstgebaute Blockhütte in den Wäldern von Massachusetts zurück, wo er zwei Jahre lang alleine lebte. Seine Erlebnisse und Gedanken veröffentlichte er später in seinem bekanntesten Werk "Walden, or, The Life in the Woods", das fortan zu Bibel aller Zivilisationsverweigerer wurde.
Auch der junge Chris, Held des Films "Into the Wild", ist der ihn umgebenden amerikanischen Mittelklassewelt überdrüssig. Nach dem Collegeabschluss graust ihn die Vorstellung, ein Studium aufzunehmen und letzendlich so zu werden wie seine Eltern. Er spendet seine Ersparnisse für die Universität an Oxfam, vernichtet alle seine Karten und Ausweise und begibt sich auf die Reise. Wohin? Nach Westen, versteht sich, wo schon immer das Abenteuer und die Freiheit lockte.
Zwei Jahre ist Chris unterwegs, er durchstreift Wüsten und Regenwälder und paddelt auf dem Colorado River bis nach Mexiko. Fast immer ist er dabei alleine, und obwohl die Aufnahmen der Landschaften schon von sich aus einen Eindruck von Freiheit und Unendlichkeit vermitteln, schien es den Filmemachern wichtig zu sein, dass dieses Gefühl zusätzlich schauspielerisch dargestellt wird. Doch wie stellt man Freiheit dar? Gar nicht natürlich, denn Freiheit bedeutet eben auch Freiheit davon, etwas für andere, und seien sie auch nur fiktiv, darstellen zu müssen. Also muss Daniel Brühl, nein, Leonardo Di Caprio, nein, dieser andere Kerl ständig auf irgendwechen windumwehten Bergkuppen stehen, die Arme ausbreiten, sein Gesicht zur Sonne drehen und dabei entrückt schauen, oder gegen den Wind anschreien. Die Musik wird dabei extra laut gedreht, damit es auch wirklich deutlich wird, dass es sich um einen ergreifenden Moment handelt. Damit verkommt das große Gefühl leider zur Pose, ebenso wie die gesamte Haltung des Reisenden und seine Inszenierung im Film.
Aus dem Off kommentiert Chris' Schwester das Geschehen aus der Perspektive der Zuhause gebliebenen. Mit Küchenpsychologie der untersten Schublade versucht sie, den Freiheitsdrang ihres Bruders, den sie offenbar zu einer Art Hausgott stilisiert hat, zu erklären: Weil ihr Vater heimlich noch eine zweite Familie hatte, wollte Chris schon immer aus dem Leben, dass er als Lüge auffasste, ausbrechen. Warum es eines bürgerlichen Pseudo-Dramas in der Biografie bedarf, um das Bestehende in Frage zu stellen, bleibt unklar, ebenso wie es unklar ist, warum es überhaupt wichtig sein sollte, zu wissen, wie Chris mit vier Jahren war, und dass seine Eltern sich viel gestritten haben.
Chris begegnet auf seiner Reise vielen verschiedenen Menschen, Menschen mit unterschiedlichen Lebenskonzepten, die sich von denen seiner Eltern durchaus unterscheiden. Er arbeitet eine Weile auf einer Maisfarm und lebt in einer Hippiekolonie, er trifft einen religiösen Fanatiker, der an einem unendlichen Kunstwerk zu Gottes Ehren werkelt, und einen pensionierten Army-Offizier, der alleine in einem Haus der in Wüste lebt. Der junge Chris, der sich auf seiner Reise "Alexander Supertramp" nennt, predigt diesen Leuten seine Lehre, seine Binsenweisheiten von Freiheit und Authentizität, und natürlich predigt er Thoreau: "Anstatt Liebe, Geld und Berühmtheit, gebe mir die Wahrheit."
Die Wahrheit sucht er schließlich in der Abgeschiedenheit von Alaska. Als er glaubt, gut genug vorbereitet zu sein auf die Wildnis, macht er sich auf den Weg. Er stößt auf einen alten Bus, der wohl schon einmal jemandem als Obdach gedient hat, und lässt sich häuslich nieder. Er durchstreift die Umgebung, breitet von Zeit zu Zeit die Arme aus, natürlich, und reckt hin und wieder das Gesicht zur Sonne. Er ernährt sich von kleinen Tieren die er fängt, und von Reis, den er sich mitgebracht hat. Nebenbei liest er viel und macht sich Notizen. Bei der Lektüre von Tolstoi geht ihm plötzlich ein Licht auf: "Glück ist nur echt, wenn man es teilt" notiert er. Glück ist nur echt, wenn man es teilt? Ist es nicht genau diese Vorstellung, die man versucht zu überwinden, indem man alleine loszieht, auf der Suche nach der inneren Freiheit? Unseren Philosophen jedenfalls befriedigt diese spektakuläre Erkenntnis, er ist nun bereit, zurückzukehren in die Welt. Aber der Bach, den er auf dem Hinweg mit Leichtigkeit überquert hat, ist aufgrund der Scheeschmelze zu einem reißenden Strom angeschwollen; der Rückweg ist abgeschnitten. Um es kurz zu machen (was der Film nicht tut): Chris verhungert, oder er stirbt, weil er giftige Pflanzen gegessen hat, oder beides, das wird nicht ganz deutlich. Obwohl natürlich keiner wissen kann, was ein Verhungernder denkt, stirbt unser Protagonist mit der Vorstellung, wie er nach Hause kommt zu seinen Eltern, bei denen er sich kein einziges Mal gemeldet hat in den vergangenen Jahren, und wie sie sich alle glücklich in die Arme sinken. Er stirbt geheilt. Der verlorene Sohn kehrt zurück, zumindest in seinem Wahn. Das ist wirklich der Gipfel des Kitsches.
Der Film lehnt sich an die wahre Geschichte von Christopher McCandless an, der 1992 in Alaska verhungerte, obwohl die Zivilisation wohl doch nicht so weit entfernt, wie es schien. Nicht weit vom Bus gab es eine Notfallstation und etwas weiter einen Highway. Ironischerweise wird seine Leiche nur wenige Tage nach seinem Tod von Elchjägern gefunden, obwohl er über 100 Tage unentdeckt in seinem Bus gelebt hatte.
Der Preis der Freiheit, so suggeriert dieser Film, ist, möglicherweise zu sterben, weil man die Segnungen der Zivilisation mitsamt der Zivilisation von sich weist. Unser junger tragischer Held hier stirbt aber leider noch nicht einmal an der Freiheit selbst, er stirbt, ohne es zu wissen, nur an der Illusion von Freiheit. Die Flugzeuge, die von Zeit zu Zeit seinen Himmel kreuzen, verweisen darauf.
Die eigentliche Frage, die der Film leider nicht stellt, ist doch: muss man, um frei zu sein, unbedingt nach Alaska gehen, wo man wie der erste Mensch einen Großteil der Zeit damit verbringt, der widerspenstigen Natur das Lebensnotwendige abzuringen, oder begibt man sich so nicht von einer Abhängigkeit in eine andere? Warum soll der Kampf gegen Hunger und Kälte ein besserer, wahrhaftigerer sein als der gegen schlechtgelaunte Busfahrer und nicht funktionierende Pfandflaschenrücknahmeautomaten? Und wenn man schon der Zivilisation den Rücken kehren muss, warum dann Alaska? Warum nicht, sagen wir mal, Costa Rica? Wahrscheinlich, weil es dann kein Drama wäre, das mit dem Hungertod des Helden endet, sondern mit seinem paranoiden Wahnsinn.
Man darf vor allem auch nicht vergessen, dass "Into the Wild" auch ein Film ist über Männlichkeit. Der starke, zuverlässige und unverwundbare männliche Körper des Protagonisten steht im Mittelpunkt. Er marschiert, er klettert, er rudert, er tötet Tiere, Frauen begehren ihn, aber er kann nein sagen; er steigt zu jedem ins Auto, und keiner fragt ihn "Hast du denn gar keine Angst?" Nein, er hat keine Angst, er ist ja unverwundbar, und auf den Gedanken, dass er verhungern könnte, kommt er natürlich noch lange nicht. So gesehen verweist der Film vielleicht auch auf die Grenzen des Männlichkeitswahns.
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