Dieses Buch von Daniel Kehlmann, das ich gelesen habe, "Die Vermessung der Welt", hat wirklich einigen Eindruck auf mich gemacht. Wahrscheinlich hat es sich schon herumgesprochen, dass es sich um eine fiktive Doppelbiografie handelt, die des Mathematikers Friedrich Gauß und des Naturforschers Alexander von Humboldt. Der eine kommt nie wirklich aus seiner Heimatstadt heraus, er vermisst die Welt in seinem Kopf, der andere bereist die halbe Welt und vermisst jeden Stein und jeden Berg. Am Ende sind sie beide alt und ein bisschen verschroben, und es sieht so aus, als hätten beide trotz allem nur einen unwesentlichen Teil der Dinge erfassen können. Bei einer Gelegenheit trifft Gauß auf Humboldts Bruder, den Sprachwissenschaftler:
"Sprachwissenschaft. (...) Gauß zuckte die Achseln. Das sei etwas für Leute, welche die Pedanterie zur Mathematik hätten, nicht jedoch die Intelligenz. Leute, die sich ihre eigene notdürftige Logik erfänden."
Die Amateur-Sprachwissenschaftlerin in mir senkte beschämt den Kopf; diese Vorstellung von Geisteswissenschaftlern, die einfach nicht intelligent genug sind für die reine Wissenschaft, sitzt doch recht tief. Nachdem ich jedoch eine Weile darüber nachgedacht habe, kam mir eine ganz andere Idee: warum sich ständig in den Dreck werfen vor Leuten, die vor lauter Intelligenz morgens noch nicht mal zwei gleichfarbige Socken finden können? (Nichts für ungut, Bruderherz!)
Wenn einer von denen an einer Funktion herumrechnet (oder was machen die da überhaupt den ganzen Tag?), dann den Rest des Tages vertrödelt und sich am nächsten Tag wieder an seine Arbeit setzt, dann ist alles noch genau wie gestern: eine Eins ist immer noch eine Eins und zwei davon ergibt Zwei.
Und dann angenommen ich denke eines Abends über ein Problem nach, sagen wir mal, über das Ich und das Andere, was die Welt ist, und ob das Andere überhaupt die Welt ist, und dann vertrödel ich den nächsten Tag, führe zwei Gespräche, schaue Nachrichten, und lese ein bisschen. Am Abend versuche ich mich zu erinnern, wo ich gestern beim Nachdenken stehengeblieben war und stelle fest: Ich bin jemand anderes als gestern; das Ich ist überhaupt nicht beschreibbar (den Verdacht hatte ich schon am Vortag), die Welt hat sich verändert, und ob das Andere nun die Welt ist, ist mir angesichts dieser verwirrenden Unklarheiten vorerst nicht möglich festzustellen. Was ich überhaupt herausfinden wollte, habe ich vor Schreck vergessen.
Und das soll einfach sein? Ich verbringe neun Zehntel meiner Zeit damit, die Dinge, mit denen ich arbeiten will, festzunageln, und kaum drehe ich mich um, haben sie sich wieder davongemacht, die Kategorien zerfließen zwischen ihnen, oder sie zerfließen zwischen den Kategorien, weil nämlich alles relativ ist und überhaupt nichts existiert, und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Hochstapler, oder Mathematiker.
Vielleicht würde es mir leichter fallen, die Dinge zu benennen, wenn ich ein bisschen intelligenter wäre, aber dann würde ich trotzdem keine Mathematik betreiben. Das wäre dann ja auch zu einfach.
Deshalb gilt: Gauß, du bist raus! (und was sich reimt ist wahr) Und es geschieht dir ganz recht, dass zehn Mark jetzt fünf Euro sind. Entschuldigung: fünf komma elf.
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1 Kommentar:
Schöne Gehässigkeit am Ende.
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